Alice Springs. Retrospektive

Alice Springs arbeitete wie ihr Ehemann Helmut Newton in drei Genres: Porträt, Akt und Mode beziehungsweise Werbefotografie, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung. Vor allem ihre unvergleichlichen Porträts wirken bis heute mit großer Authentizität und Intensität nach. Anlässlich des 100. Geburtstags von June Newton werden in dieser neu erarbeiteten Retrospektive über 150 Fotografien gezeigt, ergänzt von Fotografien von Helmut Newton aus dem Buch- und Ausstellungsprojekt Us and Them.

Eine ausgiebige Recherche im Archiv der Helmut Newton Stiftung und insbesondere des erst kürzlich nach Berlin verbrachten gesamten Bestandes aus der gemeinsamen Wohnung der Newtons in Monaco hat auch einen neuen Einblick in das Schaffen von Alice Springs ermöglicht. Die überraschenden Ergebnisse sind nun als Vintage, Late oder Exhibition Prints erstmals zu sehen und in Kombination mit den ikonischen Bildnissen gezeigt, die Alice Springs hinterlassen hat.

Die Ausstellung im Museum Schloss Moyland nutzt die Chance dieser in Kooperation mit der Helmut Newton Stiftung und den Opelvillen Rüsselsheim entstandenen Retrospektive, um im zweiten Stock des Museumsschlosses eine kleine – mit den Künstlerporträts von Alice Springs korrespondierende – Auswahl Fotografien des aus Kleve stammenden, in Paris berühmt gewordenen, Fotografen Willy Maywald zu präsentieren. 

Viele Namen – eine Fotografin

Seit 1970 arbeitete June Newton unter dem Pseudonym Alice Springs professionell als Fotografin, insbesondere im Bereich Porträt. Bereits zuvor hatte sie im privaten Kontext die Kamera in die Hand genommen. 1923 als June Browne in Melbourne geboren, absolviert sie eine Ausbildung zur Schauspielerin. Unter dem Künstlernamen June Brunell folgen zahlreiche Engagements und Preise. 

Die Schauspielerin June Brunell

Die künstlerische Karriere von June Newton begann in Australien als preisgekrönte Schauspielerin unter dem Pseudonym June Brunell. Ein frühes Farbporträt von Helmut Newton hält seine Frau ausdrucksstark in der Rolle der Salome im Jahr 1951 fest.  Ob Hutmodell, Salome oder Jeanne d‘Arc —June Newton konnte sich mit ihrer darstellerischen Fähigkeit in verschiedene Charaktere verwandeln. Schon früh entdeckte sie damit für sich das Prinzip des Rollenspiels. Es durchzieht das gesamte Porträtwerk von Helmut Newton und Alice Springs und wurde für beide ein kompositorischer Antrieb.

Die Geschichte hinter dem Pseudonym Alice Springs

Ihren ersten Modeauftrag erhielt Alice Springs vom Magazin Dépêche Mode. Nach ihrem Durchbruch als Fotografin veröffentlichte June Newton ihre Aufnahmen unter dem Pseudonym Alice Springs. Die Wahl ihres Künstlernamens erläutert sie in ihrer Autobiografie mit einer humorvollen Anekdote: Während eines Abendessens mit Freunden habe Helmut Newton sie gefragt, welchen Namen sie zu verwenden beabsichtige, wenn sie ihre Fotografien in den nächsten Magazinen veröffentlichen werde. Als die Unterhaltung darüber zum Stillstand kam, habe ein Freund des Paares kurzerhand die australische Karte im Atlas aufgeschlagen, nach einer Stecknadel gefragt und June Newton gebeten, mit geschlossenen Augen zu zielen. Die Stecknadel sei im Zentrum des Kontinents in dem Städtchen Alice Springs gelandet: »Das ist dein Name!«, rief der Freund.

Frühe Jahre

Das Frühwerk von June Newton, also bevor sie 1970 zu fotografieren begann und sich etwas später das Pseudonym Alice Springs gab, entstand im engen Dialog mit Helmut Newton: in erster Linie als gegenseitige Porträts, aufgenommen in Melbourne in den 1940er- und 1950er-Jahren sowie in Paris und im südfranzösischen Ramatuelle in den 1960er-Jahren. Manche dieser teilweise intimen Bildmotive sind auch Bestandteil des gemeinsamen Ausstellungs- und Buchprojekts Us and Them, das Jahrzehnte später, im Jahr 1998/99 realisiert wurde. Andere Aufnahmen blieben bislang unbekannt und unveröffentlicht — bis zu dieser Retrospektive, mit der uns der Blick in das Privatleben des Fotograf:innenpaares noch weiter geöffnet wird.

Porträts and Selbstporträts

Alice Springs‘ Selbstporträts und die Porträts von Helmut Newton nehmen in der Retrospektive eine Art Sonderstellung ein. Häufig entstanden sie während der Sommerurlaube im südfranzösischen Ramatuelle, in ihrer Wohnung in Paris, in Hotels in New York oder auch während der Shootings von Helmut Newton an anderen Orten. 

Us and Them

Etwas Vergleichbares wie Us and Them, aus dem viele Selbstporträts und gegenseitigen Porträts stammen, gab es vorher nicht und seitdem ebenso wenig. Us and Them ist weit mehr als ein gemeinsames Ausstellungs- und Buchprojekt. Es ist eine Art fotografisches Tagebuch, das das Zusammenleben von Helmut und June Newton in gegenseitigen Fotografien festhält. Enthalten sind aber auch Aufnahmen, die June und Helmut Newton von Schauspieler:innen, Künstler:innen sowie anderen prominenten Personen aus dem zeitgenössischen kulturellen Jetset unabhängig voneinander fotografiert haben. 

In der Ausstellung werden die bei unterschiedlichen Sitzungen aufgenommenen Porträts als Bildpaare nebeneinander präsentiert und offenbaren so zwei Facetten derselben Persönlichkeit. Der Blick June Newtons alias Alice Springs erscheint privater und intimer als der ihres Mannes, der die Porträtierten wie ein Choreograf mit geschickter Lichtregie und ausgewählten Accessoires inszenierte.

Viele der früheren Porträtaufnahmen aus Us and Them entstanden in Paris. Nach 1982, als Helmut und June Newton regelmäßig nach Los Angeles reisten, um im Hotel Chateau Marmont die Wintermonate zu verbringen, kamen zahlreiche Porträts in und um Hollywood hinzu; sie entstanden für Zeitschriften wie Égoïste, Vanity Fair oder New Yorker.

Die Fotografin Alice Springs

Am Anfang des Oeuvres von June Newton alias Alice Springs stand eine Grippe von Helmut Newton. June ließ sich von ihrem Ehemann die Handhabung von Kamera und Belichtungsmesser erklären und fotografierte 1970 in Paris an der Place Vendôme ein Werbebild für die französische Zigarettenmarke Gitanes. Das Porträt des rauchenden Models war der Startschuss für die neue Karriere der ausgebildeten Theaterschauspielerin. In der Folgezeit vermittelte ihr José Alvarez, der damals in Paris eine Werbeagentur leitete, Aufträge für Aufnahmen pharmazeutischer Produkte. Bekannt wurde insbesondere eine große Kampagne aus den 1970er-Jahren: Werbebilder für den legendären Pariser Friseur Jean-Louis David, die jahrelang als ganzseitige Anzeigen in zahlreichen Magazinen veröffentlicht wurden. 

Veröffentlichungen in Égoïste, Marie Claire, Elle, Stern, Vanity Fair

Ihre Bildnisse veröffentlichte Alice Springs ab 1977 regelmäßig in dem großformatigen französischen Magazin Égoïste, manche schafften es auf das Cover. Auch die Zeitschriften Elle, Stern, Vanity Fair oder Marie Claire buchten Alice Springs für Porträtsitzungen. Viele dieser Fotografien blieben allerdings bislang relativ unbekannt und auch ein Foto ihrer letzten Werbekampagne für einen Damenrasierer wird in dieser Retrospektive erstmals gezeigt. Hier steht eine junge Frau im pinken Kleid vor einem Motorrad, aufgenommen in Los Angeles im Jahr 2004, möglicherweise in den Filmstudios von Hollywood.  Es handelte sich eigentlich um einen Auftrag für Helmut Newton, der nur einige Tage zuvor starb und den Alice Springs vertrat. So begann ihr fotografisches Werk mit einer Übernahme eines Auftrages ihres Mannes — und so endete es, denn danach entstanden keine relevanten Fotografien mehr.

June Newton alias Alice Springs machte grundsätzlich keinen Unterschied zwischen den gesellschaftlichen Schichten, auch wenn die meisten von ihr porträtierten Personen zum kulturellen Jetset gehörten. Immer wieder gelang es ihr, dem allgemeingültigen und bekannten Image der Prominenten ein möglichst klischeefreies, neues und ungewöhnliches Abbild hinzuzufügen. Möglicherweise half ihr die tiefe Kenntnis des Schauspiels, beim Fotografieren gleichzeitig auf und hinter die Fassade des menschlichen Ausdrucks zu schauen.

Das gilt ganz besonders in jenen Bereichen, in denen mit illusionistischer Darstellung gespielt wird, wie dem Filmbusiness. In ihrer Autobiografie schreibt June Newton, ihr Mann Helmut hätte ihr geraten sich auf Porträts zu konzentrieren, weil er ihre Menschenbilder stärker als ihre Modeaufnahmen empfand. Nach June Newtons Erinnerung habe sie zunächst im Studio mit natürlichem Licht, das sie mit Blenden und Reflektoren regulieren konnte, und vor einer grauen Hintergrundwand gearbeitet. Später lernte sie, sich und ihren Kamerablick an die jeweiligen Lichtsituationen anzupassen, um auch in Hotelzimmern oder Apartments fotografieren zu können. Ob im Studio oder außerhalb, ob mit natürlichem oder künstlichem Licht – stets konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf den möglichst natürlichen Ausdruck und auf die Augen der Porträtierten.

Die einstige Schauspielerin wird insbesondere dann in der Fotografin Alice Springs erkennbar, wenn sie die Personen, die sie fotografiert, sich selbst spielen oder sie selbst sein lässt. Die Gesichter — mit offenen, fragenden, lächelnden oder verständnisvollen Blicken — scheinen sich schließlich auch für uns zu interessieren, während wir sie betrachten, Jahrzehnte nach der eigentlichen Aufnahme. 

Künstler:innen

Alice Springs und ihr Ehemann hatten Zugang zur internationalen Kunstwelt ihrer Zeit, auch wenn ein künstlerischer Status der Fotografie lange nicht zugesprochen wurde. Springs fotografierte Künstler:innen, Schriftsteller:innen, Galerist:innen oder Architekt:innen unmittelbar und schnell in meist privatem Ambiente. 

Die Fotografin nahm im Jahr 1982 auch Joseph Beuys  im Rahmen seiner Ausstellungseröffnung beim Verleger:innenpaar Liliane und Michel Durand-Dessert in Paris auf. Das Paar ist hier im privaten Rahmen mit drei Katzen gezeigt. Von Beuys entstand eine der wenigen Aufnahmen, auf denen der Künstler herzlich lacht. Auch der Philosoph und Autor Michel Foucault lachte für Alice Springs in die Kamera; das Bild entstand 1982 in Paris für Vanity Fair.

Mit einigen der Dargestellten führten Alice Springs und Helmut Newton ein enges freundschaftliches Verhältnis. So hat zum Beispiel ihr ebenfalls porträtierter Wegbegleiter José Alvarez  eine Biografie über das Ehepaar geschrieben und darin deren individuelle künstlerische Leistungen herausgestellt. Auch mit der berühmten Modefotografin Sheila Metzner waren die Newtons eng verbunden.
 

Akt

Helmut Newton und Alice Springs haben sowohl Männer als auch Frauen nackt abgelichtet; die Unterschiede sind offensichtlich: Helmut hat auch in diesem Genre in erster Linie inszeniert, ähnlich wie in seiner Mode- und Porträtfotografie. Alice Springs dagegen hat ihr Gegenüber wie in einer Gesprächspause eher beiläufig und stets sehr natürlich abgelichtet. 

Die Aktmodelle waren meist die gleichen, etwa Sirpa Lane, Pat Cleveland oder Susi Wyss. Doch arbeitete Alice Springs nicht im Auftrag des Playboy oder eines vergleichbaren Magazins, wie es ihr Mann tat, sondern zunächst für sich selbst. Ende der 1970er-Jahre erschienen manche dieser Aktaufnahmen dann aber auch in der französischen Zeitschrift PHOTO oder 1985 auf dem Cover des umfangreichen Ausstellungskataloges Das Aktfoto

Mode

José Alvarez vermittelte June Newton alias Alice Springs in den 1970er-Jahren zahlreiche Aufträge für Werbeaufnahmen. 1983 verlegte er, inzwischen Chef der Éditions du Regard, ihren ersten Porträtband, denn ab Mitte der 1970er-Jahre waren zahlreiche Porträtaufträge zu den Produktfotografien hinzugekommen: Teilweise ikonische Aufnahmen, Menschenbilder voller Empathie.

In ihren Persönlichkeitsschilderungen gelang es Alice Springs nicht nur, das Aussehen der Dargestellten einzufangen, sondern auch deren Aura. Sie transportieren eine faszinierende Mischung aus Einfühlung und Neugierde, die das Werk von Alice Springs bis heute so interessant macht. Der wortlose Dialog, der zu den außergewöhnlichen Porträts führte, schien auf einer Art Seelenverwandtschaft zu fußen.

Ihren Blick auf die Menschen konzentrierte sie größtenteils auf die Gesichter, häufig fasste sie diese im engen Bildausschnitt als Brust- oder Dreiviertelporträt ohne zusätzliche Accessoires. Nur wenige Studioporträts sind darunter, die Mehrzahl entstand — meist bei natürlichem Licht — im öffentlichen Raum oder in den Wohnungen der Porträtierten. In ihren Porträts, die schnell, spontan und mit einfacher Kameratechnik entstanden, begegnen uns abwechselnd eitle Posen oder ein natürliches Selbstbewusstsein, ein offenes oder schüchternes Mienenspiel. So werden die Aufnahmen zu visuellen Kommentaren, zu Interpretationen der Dargestellten. Gleichwohl ging es der Fotografin nie um ein Bloßstellen der jeweiligen Person und obwohl Alice Springs näher heranging und spontaner auf überraschende Aufnahmesituationen reagierte als mancher Kollege, ließ sie den Porträtierten ihre Individualität.